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Eine Kanzlerin mit Rückgrat

Essen (ots) - Vor wenigen Wochen schien es so, als habe die Kanzlerin die Nerven verloren. Als Deutschland wieder Kontrollen an der Grenze zu Österreich einführte, um der steigenden Flüchtlingszahlen Herr zu werden, wirkte das, als habe Angela Merkel der Mut verlassen, als sei sie nicht mehr davon überzeugt, dass Deutschland es schafft, die Herausforderungen zu meistern.

Geschrieben von Jan Jessen am . Veröffentlicht in Meinung.
Foto: Armin Kübelbeck - Egen Wark / CC BY-SA 3.0 (via Wikimedia Commons)

Essen (ots) - Vor wenigen Wochen schien es so, als habe die Kanzlerin die Nerven verloren. Als Deutschland wieder Kontrollen an der Grenze zu Österreich einführte, um der steigenden Flüchtlingszahlen Herr zu werden, wirkte das, als habe Angela Merkel der Mut verlassen, als sei sie nicht mehr davon überzeugt, dass Deutschland es schafft, die Herausforderungen zu meistern.

Aber die Kanzlerin hält diesmal Kurs, anders als in anderen Krisen. Sie bleibt dabei: Wir schaffen das. Es wird keinen Aufnahmestopp geben. Es ist ihr, der kühlen Pragmatikerin, ein Herzensanliegen. Das könnte ihr als Naivität ausgelegt werden, aber es ist ganz einfach eine neue, eine bemerkenswerte Standhaftigkeit, die sich nicht von sinkenden Umfragewerten oder dem anschwellenden Protest in den eigenen Reihen beeinflussen lässt, und das nötigt Respekt ab.

Realitätsfremd ist es nicht: Natürlich kann Deutschland diese Krise meistern. Dazu genügt ein kurzer Blick zurück in die Geschichte. Fast 900.000 Übersiedler aus der DDR, Aussiedler und Asylbewerber kamen allein 1989, ein Jahr später waren es über eine Million. Damals, im Jahr der deutschen Wiedervereinigung, übernahmen die Mutlosen, die Bedenkenträger und Angstmacher die Hoheit über den öffentlichen Diskurs, so wie sie es heute wieder tun, die Politiker von CSU und SPD, die einem so starken Land wie Deutschland so erstaunlich wenig zutrauen.

Vor 25 Jahren ähnelten die Schlagzeilen den heutigen, die Zeitungen waren voll von Berichten über Schlägereien in Flüchtlingsunterkünften, über Städte an Kapazitätsgrenzen, über die Angst von Bürgern vor einer Überforderung der Sozialsysteme. Politiker schwadronierten von drohenden Großstadtkriegen. Wir wissen: Es ist gut ausgegangen.

Heute sind die Herausforderungen andere als vor 25 Jahren, es gilt Menschen aus anderen Kulturkreisen und nicht nur solche mit einer völlig anderen Sozialisation zu integrieren; und natürlich müssen Probleme benannt werden. Und ja, die deutsche Flüchtlingspolitik war in den vergangenen Monaten von Aktionismus geprägt und von fehlender Vorausschau, und dafür ist Merkel als Regierungschefin verantwortlich.

Aber Angst ist kein guter Ratgeber bei einer solchen Mammutaufgabe, wer Ängste schürt, schürt auch den Hass - und deshalb ist es umso wichtiger, dass die Kanzlerin nicht in den Chor der Besorgten mit einstimmt. Den Deutschen sollte es Mut machen, dass sie jetzt eine Regierungschefin haben, die nicht umfällt, wenn es stürmt.

Die Bürger fordern immer wieder Rückgrat von der Politik ein. Merkel beweist in der Flüchtlingskrise, dass sie eines hat.



Quelle: Neue Ruhr Zeitung / Neue Rhein Zeitung