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Gravierende demokratische Defizite im Osten und unfassbare Naivität der CDU

Die Vorgänge in Thüringen belegen für Herfried Münkler einen bedenklichen Abstand zwischen Ost- und Westdeutschland in Fragen der politischen Kultur. "Im Osten fehlen 40 Jahre Bürgerlichkeit", sagte der Wissenschaftler in einem Interview mit der "Neuen Osnabrücker Zeitung".

Geschrieben von Redaktion am . Veröffentlicht in Meinung.
Foto: Bundesarchiv, Bild 102-14271B / CC-BY-SA 3.0

Die Vorgänge in Thüringen belegen für Herfried Münkler einen bedenklichen Abstand zwischen Ost- und Westdeutschland in Fragen der politischen Kultur. "Im Osten fehlen 40 Jahre Bürgerlichkeit", sagte der Wissenschaftler in einem Interview mit der "Neuen Osnabrücker Zeitung".

"Der lange Prozess der Entstehung der mit sich selbst beschäftigten Bundesrepublik, das Abarbeiten der Erfahrungen aus der Schlussphase der Weimarer Republik und des Lernens aus dem Scheitern einer Demokratie geht den Menschen in den neuen Bundesländern ab", sagte Münkler weiter. Den Menschen im Osten fehle daher eine "innere Imprägnierung gegen Fremdenfeindlichkeit und völkische und nationale Ideen" - im Gegensatz zu den Menschen in Westdeutschland.

Nach Einschätzung Münklers rächt sich jetzt, dass "man im Prozess des Zusammenwachsens von Ost und West fast ausschließlich auf die wirtschaftlichen Faktoren gesetzt hat". Der ökonomische Erfolg sei gegeben. "Dabei ist aber zu wenig bedacht worden, dass 40 Jahre Diktatur den Leuten ebenso in den Knochen stecken wie das Fehlen einer wirklichen Aufarbeitung der NS-Zeit. Die Aneignung dessen, was eine Demokratie ist, fehlt eben."

Der Politikwissenschaftler forderte in diesem Zusammenhang, sich neu mit der deutschen Geschichte zu beschäftigen. Das Ende der Weimarer Republik zeige, wie gefährlich es sei, wenn die soziale Mitte zerfalle.

Der CDU bescheinigte er im Umgang mit der AfD eine "unfassbare Naivität". Er hielt es für naheliegend, angesichts der Vorgänge in Thüringen an den Aufstieg der Nationalsozialisten in den 1930er-Jahren zu denken. "Das Vorbild für den Versuch der AfD, in die Mitte einzudringen und Koalitionen mit Teilen der Mitte zu schließen, ist wohl die Endphase von Weimar", sagte der Berliner Professor für politische Ideengeschichte. Er denke insbesondere an das Bündnis der NSDAP mit den konservativen Eliten 1934, führte Münkler weiter aus. "Zuvor lieferte der ,Tag von Potsdam' das Bild, das im Gedächtnis geblieben ist - mit Adolf Hitler und dem greisen Generalfeldmarschall von Hindenburg mit der Pickelhaube auf dem Kopf. Hitler neigte vor ihm den Kopf. Das erinnert, zumindest vom Bild her, an den Augenblick, in dem Björn Höcke Thomas Kemmerich zur Wahl zum Ministerpräsidenten gratulierte. Der gesenkte Kopf lieferte den Anschein einer Gefolgschaft, die sich sehr bald als trügerisch erweisen sollte", kommentierte Münkler die Wahl Kemmerichs zum Ministerpräsidenten.

Die Vorgänge hätten gezeigt, dass es in der CDU Leute gebe, "die mit dem Gedanken sympathisieren, zusammen mit der AfD Mehrheiten zu bilden oder mindestens zu kooperieren". Die Neigung zur Annäherung an die AfD wertete er als Anzeichen für den Verfall bürgerlicher Werte. ",So etwas macht man nicht': Das ist ein zutiefst bürgerlicher Satz. Aber dieser Satz hat seine bedingungslose Gültigkeit verloren. Stattdessen wird taktiert und probiert", sagte Münkler. Sich von Leuten wie Höcke unterstützen zu lassen, bedeute, sich in ein "Obligo des Zurückzahlens" zu begeben. Mancher thüringische Politiker glaube offenbar, etwas nehmen zu können, ohne auch geben zu müssen. "Schon das zeigt eine Entfernung vom Denken in bürgerlichen Werten", sagte Münkler.



Quelle: ots/Neue Osnabrücker Zeitung