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Nicht mehr geteilt, aber zerrissen

Ungläubiges Staunen, ungezügelte Euphorie, tiefe Rührung - der Mauerfall am 9. November 1989 hat die Menschen in Deutschland mit einer emotionalen Wucht getroffen wie kaum ein zweites Ereignis in der Geschichte des Landes. Wildfremde Menschen lagen sich in den Armen, sangen und feierten gemeinsam. Es gibt nur wenige, für die jener Donnerstag ein Tag wie jeder andere war. Die meisten Zeitzeugen erinnern sich genau daran, wo sie damals waren und was sie gemacht haben. Die Welt blickte auf Berlin und freute sich mit den Deutschen über die friedliche Revolution der DDR-Bürger und das gewaltlose Ende einer so gewaltvollen Teilung.

Geschrieben von Christian Rein am . Veröffentlicht in Meinung.
Foto: Jorbasa Fotografie / CC BY-ND 2.0 (via Flickr)

Ungläubiges Staunen, ungezügelte Euphorie, tiefe Rührung - der Mauerfall am 9. November 1989 hat die Menschen in Deutschland mit einer emotionalen Wucht getroffen wie kaum ein zweites Ereignis in der Geschichte des Landes. Wildfremde Menschen lagen sich in den Armen, sangen und feierten gemeinsam. Es gibt nur wenige, für die jener Donnerstag ein Tag wie jeder andere war. Die meisten Zeitzeugen erinnern sich genau daran, wo sie damals waren und was sie gemacht haben. Die Welt blickte auf Berlin und freute sich mit den Deutschen über die friedliche Revolution der DDR-Bürger und das gewaltlose Ende einer so gewaltvollen Teilung.

Die genaue Zahl der Menschen, die an der innerdeutschen Grenze zwischen dem 13. August 1961 und dem 9. November 1989 ihr Leben ließen, ist immer noch unklar. Es waren Hunderte; alleine in Berlin gab es mindestens 140 Opfer. Der Fall der Mauer sühnte ein Stück weit auch ihren sinnlosen Tod.

Die emotionale Wucht jener Tage ist heute, 30 Jahre später, einer Verbitterung gewichen. Das Verhältnis zwischen Ost- und Westdeutschen ist zu oft von Misstrauen und Missgunst geprägt. Man hat den Eindruck, je mehr sich die beiden Landesteile im Zuge der Einheit angleichen, desto mehr fremdeln die Menschen miteinander. Das Land ist jetzt nicht mehr geteilt, aber es wirkt zerrissen.

Ungleiche Lebensverhältnisse

Noch längst sind die Lebensverhältnisse in Ost und West nicht angeglichen, die Bundesregierung zieht eine durchwachsene Bilanz zum Stand der deutschen Einheit. Zwar sind Städte und Dörfer saniert und modernisiert, aber ganze Landstriche haben mit Bevölkerungsschwund und Überalterung zu kämpfen. Zwar erreichte die Arbeitslosenquote im Jahr 2018 mit 6,9 Prozent im Osten einen historischen Tiefststand. Sie liegt aber immer noch signifikant höher als die im Westen mit 4,8 Prozent.

Zwar sind die neuen Länder ein attraktiver Standort für junge, innovative Unternehmen, besonders im Bereich erneuerbare Energien. Der wirtschaftliche Aufholprozess gegenüber dem Westen verlief in den vergangenen Jahren aber trotzdem nur verhalten, weil auch in den alten Ländern die Wirtschaft wächst. Der Abstand beträgt immer noch rund 30 Prozentpunkte. Noch hat kein ostdeutsches Flächenland die Produktivität des westdeutschen Bundeslandes mit der niedrigsten Produktivität erreicht.

Das trägt sicher zur Unzufriedenheit vieler Ostdeutscher bei. Doch es zeichnet nicht alleine die Bruchlinie, die das Land in zwei Hälften teilt. Der tiefe Riss hat seinen Grund vielmehr in den Fehlern, die nach dem Fall der Mauer gemacht wurden, als es darum ging, die deutsche Einheit auszugestalten. Die Frage, wie dieses gemeinsame Land denn aussehen soll, wurde nicht gestellt. Kaum etwas, das die DDR in einen geeinten Staat hätte einbringen können, wurde auch nur in Betracht gezogen. Die Chance, eine neue gemeinsame Verfassung zu erarbeiten, wurde nicht genutzt. Den Ostdeutschen wurde nicht die Chance gegeben, einen Wertekanon - durchaus basierend auf dem starken Grundgesetz - mitzuerarbeiten und sich zu ihm zu bekennen. Der Westen hatte gewonnen, die DDR wurde quasi annektiert.

Die Zukunftsängste ernstnehmen

Das Gefühl, den Kürzeren gezogen zu haben, Zweite-Klasse-Deutsche zu sein, treibt der AfD in Ostdeutschland noch mehr Menschen in die Arme als im Westen. Zukunftsängste, die Sorge, den Herausforderungen der Globalisierung nicht gewachsen zu sein, sind in den neuen Bundesländern besonders stark ausgeprägt. Wohlgemerkt: Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit oder Rassismus sind keine ostdeutschen, sondern gesamtgesellschaftliche Phänomene. Aber sie haben in Ostdeutschland einen größeren Nährboden.

Das muss Sorgen bereiten und erfordert dringendes Handeln. Die Angleichung der Lebensverhältnisse muss beschleunigt werden, es müssen mehr Ostdeutsche in Wirtschaft, Politik und Wissenschaft Führungspositionen bekleiden. Vor allem aber müssen die Menschen spüren, dass ihre Zukunftsängste ernstgenommen werden, und ihnen müssen Perspektiven aufgezeigt werden für ein Leben mit allen Chancen in einer globalisierten Welt. Das alles ist kein Hexenwerk, aber es erfordert Geld, Engagement, Geduld. Und man muss es wollen.



Quelle: ots/Aachener Nachrichten