Ein krankes System: Die Pflege-Branche ist selbst ein Pflegefall
Mangel an Fachpersonal, mitunter niedrige Löhne und harte Arbeitsbedingungen - schon vor Corona waren die Probleme in der Pflege bekannt. Die Pandemie hat diese lange bekannten Probleme verschärft, aber nicht verursacht. Der Politik fällt ein Thema auf die Füße, das sie seit Jahren einfach nicht angegangen ist: die Lösung der Personalfrage im Gesundheitswesen.
Mangel an Fachpersonal, mitunter niedrige Löhne und harte Arbeitsbedingungen - schon vor Corona waren die Probleme in der Pflege bekannt. Die Pandemie hat diese lange bekannten Probleme verschärft, aber nicht verursacht. Der Politik fällt ein Thema auf die Füße, das sie seit Jahren einfach nicht angegangen ist: die Lösung der Personalfrage im Gesundheitswesen.
Was die Politik be- und immer weiter vorangetrieben hat, ist die Privatisierung von Krankenhäusern. Kliniken sollen funktionieren wie Wirtschaftsbetriebe. Aber Profitstreben und Pflege vertragen sich nicht gut. Gespart wird am Menschen. Die marktwirtschaftliche Logik kommt schnell an Grenzen, wenn es um die Bedürfnisse von Alten und Kranken geht, die auf Pflege angewiesen sind. Das System, wie es heute funktioniert, macht Pfleger und Patienten krank. Drastisch auf den Punkt gebracht hat das der Intensivpfleger Ricardo Lange. Sein Auftritt in der Bundespressekonferenz neben Gesundheitsminister Jens Spahn schlug Wellen. Als Gast in der ZDF-Talkshow Markus Lanz legte er dann nach. "Momentan sind Kliniken eher Fabriken, wo die Ware Mensch hineinkommt und bis zum letzten Atemzug Geld generiert", sagte Lange. Das gehe auch nicht anders, weil die Krankenhäuser als Wirtschaftsunternehmen schwarze Zahlen schreiben müssten. Sonst drohe ihnen die Pleite.
Für Altenheime gilt sicher Ähnliches. In der Pflege arbeiten zu rund 80 Prozent Frauen. Sie streiken selten. Denn sie wissen, wenn sie die Arbeit niederlegen, dann laufen nicht bloß weniger Autos vom Band. Pflegekräfte haben Gewissensbisse zu streiken, denn womöglich stirbt dann jemand. Sie sind seltener Mitglied in einer Gewerkschaft und sie verfügen über weniger wortgewaltige Interessenvertreter. Pflegekräfte sehen die Menschen, um die sie sich kümmern, eben gerade nicht als Ware. Für einen Pflegeberuf entscheiden sich Menschen, die andere Menschen mögen. Gutheit kennzeichnet viele, die sich der Pflege von Menschen widmen. Aber diese Gutheit wird ausgenutzt. Das ist eine bittere Pille, die Pfleger schlucken müssen.
Während der Corona-Krise gab es schöne Worte von Politikern für die Pflegekräfte und Applaus von den Balkonen. Wertschätzung ist wichtig. Für die Sicherung der Pflege braucht es jedoch etwas anderes: mehr Lohn und bessere Arbeitsbedingungen. Spardruck, hohe Bürokratie und Dokumentationsaufwand helfen nicht. Im Herbst und Winter erreichte die Belastung in Krankenhäusern, Pflege- und Betreuungseinrichtungen einen Höhepunkt. Die lange Dauer der Krise und die steigenden Fallzahlen kamen zusammen mit dem ohnehin schon hohen Stress.
Der Druck ist für viele schwer erträglich. Für Trauerarbeit und für den Abschied von Menschen, die man lange gepflegt hatte, blieb weder Zeit noch Raum. Das Ergebnis sind Angst, Schuldgefühle und Verlusterlebnisse, die aufgearbeitet werden müssen. Sonst drohen Traumatisierungen. In Norditalien brachte eine Studie zutage, wie hoch die Gefahr von sekundären Traumatisierungen im Pflegebereich ist. Die bereits existierende Personalnot wird diese Gefahr verstärken. Es ist dringend notwendig, den Pflegeberuf attraktiver zu gestalten. Zumal er immer wichtiger wird.
Ein Allheilmittel gibt es nicht. Ehrlichkeit wäre ein Anfang. Es geht um einen ehrlichen Umgang mit der Frage, was sich die Gesellschaft für die Pflege Kranker und Alter leisten will. Wir leben in einer alternden Gesellschaft. Es liegt auf der Hand, dass die Interessen von Pflegenden schnell zu den eigenen werden können. Wir alle wünschen uns wohl, dass wir im Alter oder im Krankheitsfall menschlich begleitet und betreut werden. Also müssen wir beantworten, wie das aussehen und finanziert werden soll.