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Eine Frage des Vertrauens - Wer sich zu deutschen Werten bekennt, sollte nicht russischer Propaganda verfallen

Wenn hunderte Zuwanderer in Deutschland auf die Straße gehen um gegen Gewalt zu demonstrieren und sich dabei zur deutschen Kultur und deutschen Werten bekennen, sollte das ein gutes Zeichen sein.

Geschrieben von Katia Meyer-Tien am . Veröffentlicht in Themen.
Lager Friedland, Familie aus Sibirien 1988
Lager Friedland, Familie aus Sibirien 1988
Foto: Bundesarchiv, B 145 Bild-F079037-0017 / CC-BY-SA 3.0

Wenn hunderte Zuwanderer in Deutschland auf die Straße gehen um gegen Gewalt zu demonstrieren und sich dabei zur deutschen Kultur und deutschen Werten bekennen, sollte das ein gutes Zeichen sein.

Im konkreten Fall der Russlanddeutschen, die in den vergangenen Tagen in mehreren deutschen Städten demonstrierten, lohnt es sich allerdings, einmal genauer hinzusehen, wer sich dort auf der Straße fand. Und warum. 3,2 Millionen Russlanddeutsche leben einer aktuellen Studie des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, kurz BAMF, zufolge in der BRD. Sie sind die größte Migrantengruppe in Deutschland, die Nachkommen jener Deutschen, die einst nach Russland auswanderten, dort halfen, das Land groß zu machen und Sprache, Kultur, Religion und Bräuche ihrer Eltern und Großeltern beibehielten.

Im Zweiten Weltkrieg und danach wurden sie deshalb verfolgt, weswegen sich die Bundesregierung "nach wie vor zur besonderen Verantwortung für die Gruppe der (Spät-)Aussiedler" bekennt: Das Bundesvertriebenengesetz ermöglicht ihnen eine relativ unkomplizierte Rückkehr nach Deutschland. Die meisten der 3,2 Millionen in Deutschland lebenden Russlanddeutschen haben die deutsche Staatsbürgerschaft, sie sind damit eine politisch durchaus relevante Gruppierung. Eine Gruppe mit relativ geringer Erwerbs- oder Arbeitslosigkeit, mittlerer Einkommenssituation, traditionell stark gebunden an die Unionsparteien. So heißt es in der Studie des BAMF, die die (Spät)Aussiedler auch als "stark von Sozialisationserfahrungen in den Herkunftsländern geprägt" und von eher geringem politischen Interesse beschreibt.

Dass ein - wenn auch sehr kleiner - Teil dieser Gruppe jetzt auf die Straße geht, ist kein Zufall, die Aufregung über die angebliche Vergewaltigung einer 13-Jährigen durch Flüchtlinge eher Symptom als Ursache. Die tatsächlichen und die vermeintlichen Probleme Deutschlands und Europas im Umgang mit der Flüchtlingskrise sind seit Wochen Thema in den russischen Medien. Wohl auch mit übertriebenen oder gar gefälschten Berichten vermitteln Fernsehen und Internet das Bild, dass in Deutschland und anderen europäischen Ländern Gewalt von Flüchtlingen alltäglich und die Menschen auf den Straßen nicht mehr sicher seien. Berichte, die nicht nur von den wirtschaftlichen Problemen im eigenen Land ablenken, sondern der russischen Regierung noch weiter nutzen dürften: Demonstrierte Wladimir Putin mit seinem Vorgehen auf der Krim, in der Ukraine und in Syrien militärische Stärke, lässt die Berichterstattung über das Versagen und die Überforderung der europäischen Staaten bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise nun Europa schwach aussehen.

Die Demonstranten, die sich auf genau diese Berichterstattung jetzt berufen, müssen sich nicht nur die Frage gefallen lassen, warum sie bei aller Verbundenheit mit der deutschen Kultur und den deutschen Werten den Mutmaßungen russischer Medien mehr Glauben schenken als der unabhängigen Berichterstattung in Deutschland. Sie machen sich darüber hinaus gewollt oder ungewollt zum Handlanger einer Propaganda, die den Zerfall Europas beschwört und damit - quasi als selbsterfüllende Prophezeiung - vielleicht sogar befördern kann.

Dabei erweckten die Merkel-muss-weg-Rufer unter den Demonstranten nicht den Eindruck, als ginge es ihnen darum, eine Lösung für das real existierende Problem zu finden, wie Flüchtlinge menschenwürdig integriert werden können, um Gewalt jedweder Art zu vermeiden. Oder gar die Ursachen der Flüchtlingsströme zu bekämpfen - ein Problem, bei dem Wladimir Putin tatsächlich eine Schlüsselrolle spielen könnte, wenn er denn wollte. Im Dunstkreis der Demonstranten ließ sich der Vorsitzende des "Internationalen Konvents der Russland-Deutschen" interviewen. Er forderte "den Flüchtlingszustrom zu stoppen" und sprach davon, nicht "zu warten, dass die Rettung von irgendwo kommt, wir müssen jeder auf seinem Platz dafür kämpfen". Es ist derselbe Mann, der schon vor Jahren in einem Spiegel-Interview in einem anderen Zusammenhang davon sprach, "Hunderttausende Aussiedler dazu aufzurufen, die Republikaner zu wählen". Solche Szenarien wiederum verleihen den Protesten eine innenpolitische Dimension, die tatsächlich Sorge um deutsche Kultur und deutsche Werte wecken kann.

Zumindest bei denen, die auch Meinungsfreiheit, Toleranz und Demokratie zu den deutschen Werten zählen.



Quelle: ots/Mittelbayerische Zeitung