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Europa zittert vor der Bulldogge

Dr. Nicolai von Ondarza: EU-Verbleib Großbritanniens ist fraglich und damit auch die EU als solche.

Geschrieben von Redaktion am . Veröffentlicht in Themen.
Foto: DFID / Flickr (CC BY-SA 2.0)

Dr. Nicolai von Ondarza: EU-Verbleib Großbritanniens ist fraglich und damit auch die EU als solche.

Um die EU-Skeptiker in der eigenen Partei einzuhegen, setzt der konservative britische Premier David Cameron auf ein Referendum über den Austritt aus der EU. Zugleich hat er einen "besseren Deal" zugesagt, der den Verbleib Großbritanniens begründen soll. Dr. Nicolai von Ondarza, Forscher am größten europäischen Thinktank SWP, erwartet "zähe Verhandlungen und einen symbolischen Sieg Camerons", aber er befürchtet ein Scheitern im Referendum.

Wird David Cameron mit seinem Reformvorstoß zum Totengräber der EU oder zum Impulsgeber für eine stabilere Konstruktion?

Dr. Nicolai von Ondarza: Cameron geht es mit seinem Vorstoß vor allem darum, die Briten zu überzeugen. Deshalb versucht er, in Brüssel symbolische Zugeständnisse zu erreichen, mit denen er den Briten suggerieren kann, er hätte die Europäische Union verändert. Wenn er aber nicht mehr mitbringt als das, was Ratspräsident Donald Tusk nun vorgelegt hat, geht sein Erfolg nicht über das Symbolische hinaus. Das wird die Struktur der EU nicht maßgeblich verändern.

Flüchtlingskrise, Ukraine, Syrienkrieg, Griechenland - Gehen die aktuellen Krisen inklusive Brexit-Poker an die Substanz der EU?

Dr. von Ondarza: Ja, man kann sagen, dass sich die EU in einer existentiellen Krise befindet. Jede einzelne dieser Krisen wäre schon eine Herausforderung, die die Kräfte der EU absolut in Anspruch nehmen würde. Zusammen ergeben sie einen explosiven Cocktail: Geht es in einer der Krisen schief, könnte dies eine Kettenreaktion auslösen. Deshalb ist die EU in ihrer derzeitigen Form in Gefahr, sobald einer der Brennpunkte nicht mehr einzudämmen ist - einschließlich einem Austritt Großbritanniens.

Liegt dem allen eine Solidaritätskrise zugrunde? Der Norden verweigert sie dem Süden in der Schuldenkrise, der Osten dem Westen in der Flüchtlingskrise. Entpuppt sich sich die EU ganz unabhängig vom Quertreiber London als Schönwettergemeinschaft?

Dr. von Ondarza: Man erkennt an den aktuellen Krisen, dass die Gemeinschaft in den vergangenen Jahren ihre Integration zu weit vorangetrieben hat, nimmt man den tatsächlichen Zusammenhalt zwischen den Partnern zum Maßstab. Kommt es hart auf hart, ist die staatenübergreifende Solidarität nicht so stark ausgeprägt, wie es für das Aufrechterhalten einer gemeinsamen Währung und gemeinsamer Grenzen notwendig ist. Die EU ist gerade dabei, herauszufinden, ob die Gemeinschaft unter Druck hält oder ob der politische Wille, das Projekt Europa zu gestalten, nicht mehr ausreicht. Bisher muss man konstatieren, dass die EU trotz Schulden- und Flüchtlingskrise nicht auseinandergebrochen ist und hat noch immer einen Kompromiss gefunden.

Von der Flüchtlings- wie von der Eurokrise ist Großbritannien kaum betroffen. Wieso mahnt ausgerechnet London massiven Änderungsbedarf an?

Dr. von Ondarza: Das ist in der Tat paradox. Großbritannien ist der Staat mit den meisten Ausnahmeregelungen. Das erklärt sich aber daraus, dass die Briten von Anfang an die Europäer waren, die der europäischen Integration am skeptischsten gegenüberstanden. Von daher drängte London seit jeher darauf, die Integration auf die Wirtschaft zu konzentrieren und hielt sich aus der politischen Annäherung heraus. Diese Haltung will David Cameron jetzt noch mal unterstreichen.

Die britischen EU-Gegner bezeichnen Camerons Paket als reine Kosmetik, Martin Schulz sieht die EU hingegen in ihrer schwersten Bewährungsprobe. Was ist richtig?

Dr. von Ondarza: Camerons Forderungen sind größtenteils symbolisch oder gesamtgesellschaftlich so irrelevant - wie etwa Kindergeld für EU-Zuwanderer -, dass sie den Kern der Frage der Zugehörigkeit der Briten zur EU nicht berühren. Was die EU bisher angeboten hat, sind Regelungen, die den bisherigen Sonderstatus Großbritanniens noch mal unterstreichen. Ich schätze, er wird das Ergebnis mit nach Hause bringen können: "Wir sind an der engeren Integration Europas dauerhaft nicht beteiligt". Aber ob das reicht, um die Briten zu überzeugen, da bin ich angesichts der bisher ablehnenden Reaktionen skeptisch.

Wäre nicht sogar ein symbolischer Sieg ein erheblicher Brocken für die EU? Zumal die Gemeinschaft zu einer EU à la carte degenerieren könnte, einem losen Netzwerk, in dem sich jeder herauspickt, was ihm zusagt.

Dr. von Ondarza: Genau deshalb versuchten die Europäer in den Verhandlungen mit Cameron eine Quadratur des Kreises: Sie wollten Großbritannien mit Zugeständnissen in der EU halten, ohne eine Blaupause zu liefern, die andere Mitgliedsstaaten ermuntert, sich nach deren Schema auch Sonderrechte herauszupicken. Das Ergebnis, das nun auf dem Gipfel abgesegnet werden muss, zeichnet sich aus meiner Sicht dadurch aus, dass es auf den ersten Blick wie ein überragender Sieg Camerons aussieht, im Detail aber keine neuen Sonderausnahmen für Großbritannien vorsieht. Ein Beispiel: Cameron wollte die Sozialausgaben für EU-Bürger in seinem Land radikal kürzen, was einem Bruch mit dem Prinzip der Freizügigkeit gleichgekommen wäre. Hier bietet die EU ihm nun eine "Notbremse" an, mit der Großbritannien, aber auch jeder andere EU-Staat, lediglich in Notsituationen und nur nach Zustimmung der anderen 27 EU-Staaten zeitlich befristet Sozialleistungen zurückhalten kann. Das heißt, man hat eine allgemeine Reform der Freizügigkeit entworfen, statt ein auf Großbritannien zugeschnittenes Sonderrecht zu kreieren. Das ist der richtige Weg, damit keine EU à la carte entsteht.

Für die britischen Bürger ist aber eben diese Einwanderung aus Mittel- und Osteuropa das drängendste Problem. Wird eine allgemeine Reform der Freizügigkeit die Gemüter auf der Insel beruhigen können?

Dr. von Ondarza: Die harten EU-Gegner werden sich durch nichts anderes beruhigen lassen als den EU-Austritt Großbritanniens. Die Frage ist nur, ob dieses Zugeständnis die in Sachen EU-Mitgliedschaft unentschlossenen Briten überzeugt. Und hier sind die ersten Reaktionen ernüchternd. Nach dem Vorschlag Brüssels wiesen sämtliche Umfragen einen Zugewinn im Lager der EU-Gegner aus. Nach aktuellem Stand muss man also davon ausgehen, dass Cameron im Referendum einen sehr harten Kampf vor sich hat.

Was stört Downingstreet 10 an dem Ziel einer "immer engeren Union", zumal sie kaum einen Integrationsschritt mitgegangen ist?

Dr. von Ondarza: Schon heute kann kein EU-Staat zu weiteren Integrationsschritten gezwungen werden. Das hat gerade Großbritannien mit seinen häufigen Vetos und seinen Ausnahmeregelungen beim Euro und bei Schengen bewiesen. Das Ziel einer "immer engeren Union" ist für die britischen EU-Skeptiker Beleg ihrer Angst, dass sich die EU in einen Superstaat verwandeln könnte. Das Referendum dient eigentlich nur der Bekräftigung des britischen Sonderstatus.

Wird das Europa der zwei Geschwindigkeiten zu einem gespaltenen: einem sich stärker integrierenden Kerneuropa mit lose verknüpften Satelliten?

Dr. von Ondarza: Wir müssen uns von dem Bild eines Europas der zwei Geschwindigkeiten verabschieden, denn es beinhaltet die Annahme, dass die Mitgliedsstaaten zwar mit unterschiedlichem Tempo, aber letztlich auf das gleiche Ziel zusteuern. Aber inzwischen haben Großbritannien, zum Teil auch Polen und Ungarn klargemacht, dass sie nicht weiter nationale Rechte zugunsten Europas aufgeben wollen. Der einzige Weg, wie sich Europa unter diesen Vorzeichen noch weiterentwickeln kann, ist die Herausbildung eines Kern-europas rund um die Eurozone, an das weitere Staaten nur lose angebunden sind.
Dieser Weg wurde mit dem Angebot an Cameron schwarz auf weiß festgeschrieben.

Muss sich die EU angesichts des Trends zur Renationalisierung in vielen Mitgliedsstaaten Kompromissmechanismen geben, um Europa-Anhänger und -Skeptiker in einem Boot zu halten?

Dr. von Ondarza: Diese Kompromissmechanismen besitzt die EU bereits. In ihren Entscheidungsprozessen ist sie eine vollständige Kompromissmaschine. Die Frage stellt sich eher, wie die EU mit einem Mitgliedsstaat umgehen will, dessen Regierung dauerhaft auf Konfrontation geht. Sollten veritable EU-Gegner in einem Mitgliedsstaat die Regierung stellen und reine Blockadepolitik betreiben, fehlen der EU derzeit die Gegenmittel.

Europapolitik war für Cameron immer Innenpolitik. Viele Missstände auf der Insel wurden Brüssel angelastet. Erntet er beim Referendum die EU-Feindseligkeit, die er selbst gesät hat?

Dr. von Ondarza: Alle britischen Konservativen, nicht nur Cameron, werden jetzt damit zu kämpfen haben, dass sie in den vergangenen Jahren, fast Jahrzehnten, einen durchgehend EU-kritischen Kurs gefahren sind. Cameron versucht jetzt kurz vor dem Referendum, erstmals auch über die wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Vorteile der EU zu sprechen. Ob er diesen Kurswechsel glaubwürdig in so kurzer Zeit vermitteln kann - einen Erfolg beim EU-Gipfel vorausgesetzt, sollen die Briten bereits im Juni abstimmen -, ist mehr als fraglich.

Wie konnten sich die Tories derart von den Eliten abkoppeln, die ihre natürlichen Verbündeten sind - Finanzwirtschaft und Handel - und die strikt für die EU-Mitgliedschaft sind?

Dr. von Ondarza: Die Tories haben sich seit dem Maastrichter Vertrag schrittweise von der EU entfremdet, weil sie nicht mehr als einen gemeinsamen Binnenmarkt angestrebt hatten. Vor allem in der Ära von New Labour, als sie in der Opposition waren, haben sie sich europapolitisch radikalisiert. Als dann die Konservativen 2010 wieder an die Macht kamen, waren sie bereits aus dem Verbund der europäischen Konservativen in Straßburg - der EVP - ausgeschert.

Wie gehen Gipfel und Referendum aus?

Dr. von Ondarza: Cameron ist dabei, das politische Spiel in der EU zu gewinnen. Er wird vorzeigbare Ergebnisse mit nach Hause tragen können, weil alle Mitgliedsstaaten ein Interesse daran haben, dass die Briten im europäischen Verbund bleiben. Ich befürchte aber, dass er dabei ist, den Kampf um die öffentliche Meinung in Großbritannien zu verlieren. Es steht auf Messers Schneide, ob Großbritannien EU-Mitglied bleibt oder nicht.

Das Interview führte Joachim Zießler



Quelle: ots/Landeszeitung Lüneburg