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Flüchtlingsströme

Volksvertreibung

Sie wollen eigentlich gar nicht nach Westeuropa kommen. Das hört, wer mit den Menschen redet, die sich stündlich zu Tausenden über die ukrainischen Grenzübergänge retten.

Geschrieben von Friedrich Roeingh am . Veröffentlicht in Themen.
Über eine Million Flüchtlinge schon in Polen - ein paar tausend bisher in Deutschland.
Über eine Million Flüchtlinge schon in Polen - ein paar tausend bisher in Deutschland.
Foto: Chris Farley / Public Domain (via DVIDS)

Sie wollen eigentlich gar nicht nach Westeuropa kommen. Das hört, wer mit den Menschen redet, die sich stündlich zu Tausenden über die ukrainischen Grenzübergänge retten.

Das lässt sich eindrucksvoll an den Zahlen ablesen: Über eine Million Flüchtlinge schon in Polen - ein paar tausend bisher in Deutschland. Und doch müssen sich auch die westlichen Länder Europas schnellstens für den größten Flüchtlingsstrom wappnen, den die Welt seit Ende des Zweiten Weltkriegs gesehen hat. Weil Polen, Rumänien und die Slowakei - die schon jetzt Unglaubliches leisten - sehr bald an die Grenzen des Leistbaren stoßen. Weil etwa Moldawien nicht im Ansatz in der Lage ist, Ähnliches auf die Beine zu stellen. Und weil die Ukrainerinnen, die mit ihren Kindern dem gezielten Bombardement ihrer Städte entfliehen, in wenigen Wochen erkennen werden: Sie brauchen für längere Zeit einen sicheren Hafen - egal wie weit weg dieser von ihren Männern und Eltern entfernt liegt, die sich nicht in Sicherheit bringen können oder wollen.

Was für eine Tragödie, die weniger Tragödie als gezieltes Kriegsverbrechen ist. Ein Verbrechen, dessen Muster wir im tschetschenischen Grosny und im syrischen Aleppo nicht recht erkennen wollten: Die gezielte Entvölkerung eines widerständigen Landes, die wir in Europa zudem nicht für denkbar hielten. In der Ukraine kommt noch die Gefahr eines schmutzigen "Atomunfalls" hinzu, der auch noch die Landbevölkerung vertreiben könnte. Wer angesichts dieser Katastrophe Debatten über Flüchtlinge erster oder zweiter Klasse anzettelt, dem ist nicht mehr zu helfen. Vor allem denen nicht, die mit dieser Debatte ihr vermeintliches Gerechtigkeitssüppchen kochen wollen. Alle Kraft muss jetzt darauf gerichtet sein, den Flüchtlingen zu helfen und sich auch in Deutschland für die Versorgung von Hunderttausenden, möglicherweise ein oder zwei Millionen zu wappnen. Die rechtlichen Voraussetzungen - keine Asylverfahren, sofortige Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis, Krankenversicherungsschutz - scheinen weitgehend geebnet. Wie unvorbereitet sich Bund, Länder und auch die Kommunen noch zeigen, ist dagegen erschreckend. Der Stoßseufzer "Wir haben doch gerade erst die Corona-Krise bewältigen müssen", hilft jetzt nicht weiter.

Im Kontrast zu dieser behördlichen Bräsigkeit scheint die Hilfsbereitschaft der Bürger zu stehen. Es sind mitnichten nur ukrainische Landsleute, die bereitstehen, Flüchtlingsfamilien auch privat aufzunehmen. Aber machen wir uns nichts vor: Diese Willkommenskultur muss zwingend länger anhalten als die vergangene.

Quelle: Allgemeine Zeitung Mainz