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30 Jahre nach dem Mauerfall ist im Osten Europas der Jubel über den Triumph der Freiheit verklungen

Von dem bulgarischen Politikwissenschaftler Ivan Krastev stammt der Satz: "Michail Gorbatschow war naiv, Wladimir Putin ist es nicht." Der Kriegsherr im Kreml ist demnach ein besserer Stratege und Politiker, als es der Friedensnobelpreisträger und Erfinder der Perestroika je war. Zugleich jedoch ist der ausgewiesene Putin-Kenner Krastev davon überzeugt, dass Russland zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine Art Weltmacht der Wut geworden ist, ein "zornerfüllter, revisionistischer Staat, der alles daran setzt, Europa zu zerstören".

Geschrieben von Ulrich Krökel am . Veröffentlicht in Welt.
Foto: mnswede70 / CC0 (via Pixabay)

Von dem bulgarischen Politikwissenschaftler Ivan Krastev stammt der Satz: "Michail Gorbatschow war naiv, Wladimir Putin ist es nicht." Der Kriegsherr im Kreml ist demnach ein besserer Stratege und Politiker, als es der Friedensnobelpreisträger und Erfinder der Perestroika je war. Zugleich jedoch ist der ausgewiesene Putin-Kenner Krastev davon überzeugt, dass Russland zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine Art Weltmacht der Wut geworden ist, ein "zornerfüllter, revisionistischer Staat, der alles daran setzt, Europa zu zerstören".

In dieser Deutung ist Putin so etwas wie ein genialer Exekutor von Empörung und Rachsucht, die sich 30 Jahre nach dem Mauerfall im Osten Europas ausgebreitet haben. Tatsächlich herrscht in der russischen Gesellschaft längst Einigkeit darüber, dass Gorbatschows Perestroika ein Fehler mit verheerenden Folgen war. Der Zerfall des Imperiums und die Jelzin-Anarchie der 90er Jahre haben traumatische Spuren hinterlassen. Krastev schließt aus der aufgestauten Wut auf einen Vergeltungswillen, der in der Annexion der ukrainischen Krim 2014 seinen bislang stärksten Ausdruck gefunden habe.

Mit Blick auf Russland spricht viel für diese "psychologische" Argumentation. Weit verblüffender jedoch ist, dass sich ähnliche Phänomene auch in jenen Staaten Ostmitteleuropas zeigen, die 1989 auf der Seite der Sieger zu stehen glaubten. 30 Jahre nach dem Mauerfall ist in Polen, Ungarn, Tschechien und der Slowakei nicht nur der Jubel über den Triumph der Freiheit verklungen. Vielmehr wächst auch dort die Verbitterung. Zum Beispiel in Tschechien, wo der populistische Premier Andrej Babis die Folgen von 1989 gern mit einer Reihe von Schlagworten beschreibt: Privatisierung, Entkernung der Betriebe, Mafiakämpfe, Oligarchie und Korruption. Was Babis nicht dazusagt, ist, dass er selbst zu den größten Wendegewinnern in der ehemaligen CSSR zählt. Mit seiner Agrar-Chemie-Holding stieg er in den 90er Jahren zum Multimilliardär auf und später zum Ministerpräsidenten, obwohl er in diverse Korruptionsskandale verwickelt war. Eine Mehrheit der Tschechen lässt das jedoch kalt. Die Babis-Partei ANO liegt in allen Umfragen klar vor der Konkurrenz. Mehr noch: Die Erzählung von den verheerenden Folgen der Samtenen Revolution stößt in weiten Teilen der Bevölkerung auf offene Ohren, und das in einem Wirtschaftswunderland mit der geringsten Arbeitslosigkeit in der EU. Und Tschechien ist kein Einzelfall. Auch der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban und Jaroslaw Kaczynski, der starke Mann der polnischen Politik, folgen bei ihren Auftritten gern der populistischen Erzählung von den ausbeuterischen Eliten und dem einfachen Volk, das um seinen Sieg des Jahres 1989 betrogen worden sei.

Es wirkt hochgradig paradox: Je besser es den Menschen in Polen, Ungarn und Tschechien zumindest wirtschaftlich geht, desto größer werden Wut und Enttäuschung über die "blinde Westwendung" nach 1989. Auf der Suche nach Erklärungen ist Krastev unter anderem auf das Thema Migration gestoßen, das in seinen Augen eine zentrale Rolle bei diesem Paradigmenwechsel spielt. Zum einen habe die Abwanderung vieler junger und gut ausgebildeter Menschen in den Westen Ängste vor Entvölkerung geschürt. Zum anderen habe dann die Migrationskrise von 2015 eine an Panik grenzende Überfremdungsfurcht ausgelöst. Ob das Erklärung für das 89er-Paradoxon reicht? Fest steht, dass Orban damals vor "einer der größten Menschenfluten der Geschichte" warnte. Kurz darauf ließ er an der ungarischen Grenze ein Abwehrbollwerk aus Stacheldrahtzäunen errichten - ganz ähnlich jenem Eisernen Vorhang, den die Revolutionäre von 1989 öffneten.



Quelle: ots/Mittelbayerische Zeitung