Erdogan in Brüssel
Bielefeld (ots) - Ziemlich beste Freunde sehen anders aus. Europa und die Türkei sind sich auch nach diesem Spitzentreffen in Brüssel fremd geblieben: Hier der Staatspräsident aus Ankara, der sein Land weiter fast schon absolutistisch beherrschen und von europäisch-demokratischen Werten nur begrenzt etwas wissen will. Dort diese Union, die ihre Errungenschaften vor sich herträgt, aber nun unter Druck geraten ist.
Bielefeld (ots) - Ziemlich beste Freunde sehen anders aus. Europa und die Türkei sind sich auch nach diesem Spitzentreffen in Brüssel fremd geblieben: Hier der Staatspräsident aus Ankara, der sein Land weiter fast schon absolutistisch beherrschen und von europäisch-demokratischen Werten nur begrenzt etwas wissen will. Dort diese Union, die ihre Errungenschaften vor sich herträgt, aber nun unter Druck geraten ist.
Beide sind aufeinander angewiesen, denn nichts braucht die Gemeinschaft derzeit mehr als ein Signal, dass der Flüchtlingsstrom in absehbarer Zeit eingedämmt werden kann. Geld, politische Zusagen, gar eine neue Perspektive bei den faktisch zum Erliegen gekommenen Beitrittsverhandlungen mit der Türkei - der Preis ist hoch. Seit Jahren werden in Brüssel gegebene Versprechen verschoben. Nun bot man sie dem Herrscher aus Ankara auf dem goldenen Tablett an.
Die europäische Außenpolitik hat sich verändert. Denn die Einsicht, dass man funktionierende Strukturen in den Ländern Nordafrikas und des arabischen Raums nicht zerschlagen darf, weil man sie braucht, hat sich durchgesetzt. Das abschreckende Beispiel heißt Libyen, wo - wie es ein EU-Außenpolitiker ausdrückte - »man erst einen Diktator weggebombt hat« und anschließend in einem Land, das im Bürgerkrieg versinkt, keinen machtvollen Ansprechpartner mehr hatte.
So etwas nennt man Realpolitik oder Wandel durch Annäherung. Das mag akzeptabel erscheinen, so lange es nicht zur Erpressung kommt.
Tatsächlich aber steht die EU mit dem Rücken zur Wand. Erdogan wusste das, als er gestern einen Aktionsplan herausschlug, der noch vor Kurzem undenkbar gewesen wäre. Der Deal mag aufgehen, wenn die europäischen Staatenlenker sich in der kommenden Woche bei ihrem Gipfeltreffen zu den verabredeten Maßnahmen bekennen.
Aber ein fader Nachgeschmack bleibt, weil die EU zur Marionette eines Mannes zu werden droht, der vor keinem Mittel der Machtpolitik zurückscheut. Die Türkei braucht nicht mehr zu tun, als die Millionen syrischer Flüchtlinge ungehindert durchzulassen, um Europa zu destabilisieren. Erdogan sitzt am Drücker. Schon die Zusage, rund eine halbe Millionen weiterer Flüchtlinge auf sicheren Wegen in die EU einreisen zu lassen, wird die Gemeinschaft vor eine harte Bewährungsprobe stellen.
Dennoch bleibt der EU keine andere Wahl als der Versuch, Ankara auf seine Seite zu ziehen. Denn nur so wahrt man die Chance, zum einen die Flüchtlingsfrage wenigstens perspektivisch zu entschärfen und zum anderen zu verhindern, dass Erdogan in der noch nicht erkennbaren Koalition derer, die auf den syrischen Machthaber Baschar al-Assad einwirken sollen, auf die falsche Seite gerät. Um es anders zu sagen: Man muss einfach sicherstellen, dass nicht nur die EU die Türkei, sondern die Türkei auch die EU braucht.