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Fußball in Europa: Eine derartige EM hat es bislang noch nicht gegeben

Eine solche Situation hat es noch nie bei einer Fußball-Europameisterschaft gegeben: 24 teilnehmende Mannschaften, 90000 Polizisten und Soldaten, 12000 private Sicherheitsleute. Auf derartige Superlative möchte man gerne verzichten - auf die Aufblähung eines Turniers, bei dem nach der Vorrunde nur acht Mannschaften nach Hause fahren müssen, und, vor allem, auf die permanent anwesende Angst vor einem Terrorakt. Diese EM ist anders.

Geschrieben von Bernd Mathieu am . Veröffentlicht in Welt.
Foto: Jonny Lindner / CC0 via Pixabay

Eine solche Situation hat es noch nie bei einer Fußball-Europameisterschaft gegeben: 24 teilnehmende Mannschaften, 90000 Polizisten und Soldaten, 12000 private Sicherheitsleute. Auf derartige Superlative möchte man gerne verzichten - auf die Aufblähung eines Turniers, bei dem nach der Vorrunde nur acht Mannschaften nach Hause fahren müssen, und, vor allem, auf die permanent anwesende Angst vor einem Terrorakt. Diese EM ist anders.

Die Euro 2016 findet, ausgerechnet, in dem bislang von dem islamistischen Terror am stärksten betroffenen Frankreich statt. Das ist eine nicht geplante Dramaturgie. Ein Zufall, der dem gigantischen Championat die übliche Freude zu rauben scheint. Die ungetrübte Leichtigkeit auf den Fan-Meilen und in den Stadien ist (noch) nicht da. Die Euro 2016 könnte dennoch in einem Europa, das sich politisch in seine nationalen Einzelteile zerlegt und sich selbst aufzulösen scheint, ein zumindest temporärer Gegenentwurf zur Tristesse des bisherigen europäischen Jahres sein - zu seiner in so vielen Facetten daherkommenden Sprach- und Mutlosigkeit.

Sie zeigt sich ganz unangenehm und höchst enttäuschend aktuell im seltsamen Schweigen einer Kanzlerin, der zu den Hasstiraden eines mehr und mehr entgleisenden türkischen Staatspräsidenten nur die Banalität einer nichtssagenden Worthülse einfällt. Sie halte, so ließ sie ihren Regierungssprecher verlautbaren, gewisse Äußerungen "von der türkischen Seite für nicht hinnehmbar". Das reicht als Reaktion auf die Irrungen von Recep Tayyip Erdogan, den sie namentlich zu nennen sich nicht traut, keineswegs. Und auch Merkels Teamkollege auf dem Außenflügel, Steinmeier, schweigt, wo ein Protest in der Klarheit der Mitspieler Lammert und Schulz unbedingt nötig gewesen wäre.

Eine Europäische Union, die nicht mehr in der Lage ist, ohne Abhängigkeit von einem Despoten ihre Flüchtlingspolitik zu organisieren und zu strukturieren, die offensichtlich keinen Plan B hat, fördert die Orientierungslosigkeit ihrer Bevölkerung. Sie vermittelt keine Linie, keine Sicherheit, keine Perspektive und erst recht keine Zuversicht auf dem wahrscheinlich vielseitigsten und demokratischsten Kontinent der Erde. Sie trägt Mitverantwortung für die immer intensiver werdende Renaissance der Populisten, Reaktionäre und Nationalisten.

Und nun die EM. Sie ist eine Konzentration verschiedener Kulturen, nicht nur der Spielsysteme, sondern der Menschen aus verschiedenen Herkunftsländern. "Je suis Euro 2016": Das sind Spieler und Trainer, Funktionäre und Journalisten, Fernsehzuschauer und Fans aus aller Herren Ländern. Fußball hat wunderbare assoziative Fähigkeiten: Er versteht es, zumal bei einem solchen EM-Turnier, große Feste und unvergessene Spiele zu inszenieren, Tragödien und Komödien auf den Programmzettel zu lancieren, Dramen und Erfolgsgeschichten zu schreiben. Er ist das Spielfeld der glänzenden Sieger und der verzweifelten Verlierer. Er präsentiert Mimik und Gesten, Rasanz und Langeweile, Stimmungen und Emotionen, Ungerechtigkeiten und Bluff. Ein richtig gewürztes Fußballspiel ist immer eine Hommage an die Lebensfreude. Hoffentlich kann die Euro 2016 dieses vitale Zeichen setzen: für die Vielfalt Europas und damit für seine Einzigartigkeit, die niemand leichtfertig aufs Spiel setzen sollte.



Quelle: ots/Aachener Zeitung