Hongkongs zweite Chance
Die Betonköpfe in Peking haben sich verrechnet. Ihr Kalkül: Mit genügend Gummigeschossen, Tränengas und Wasserwerfern lassen sich wütende junge Menschen in Hongkong mundtot machen. Das Feuer der rund sechs Monate andauernden Unruhen müsse ausgetreten werden, lautete die Devise der kommunistischen Führung Chinas und ihrer Exekutoren in der Sonderverwaltungszone.
Die Betonköpfe in Peking haben sich verrechnet. Ihr Kalkül: Mit genügend Gummigeschossen, Tränengas und Wasserwerfern lassen sich wütende junge Menschen in Hongkong mundtot machen. Das Feuer der rund sechs Monate andauernden Unruhen müsse ausgetreten werden, lautete die Devise der kommunistischen Führung Chinas und ihrer Exekutoren in der Sonderverwaltungszone.
Diese Überlegung ging gründlich schief. Der überwältigende Sieg für die prodemokratischen Parteien bei den Bezirkswahlen in Hongkong ist ein lautstarkes Votum der schweigenden Mehrheit. Die Proteste gegen den zunehmenden Einfluss Chinas in dem politisch und wirtschaftlich vergleichsweise liberalen Hongkong mögen in den letzten Wochen aus dem Ruder gelaufen sein. Doch bei den Wahlen gaben Studenten, Bankangestellte, Handwerker und Beamte ihre Stimme für die Erhaltung von Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit ab. Es war eine fulminante Misstrauenserklärung gegen die Verfechter eines autoritären Bulldozerkurses in Peking.
Die Gouverneurin von Hongkong, Carrie Lam, hat zumindest die richtigen Signale ausgesandt. Sie versprach, "demütig und ernsthaft" über den Ausgang der Wahlen nachzudenken. Ein Staat, der über Wochen mit massiver Polizeigewalt gegen seine Bürger vorgeht, macht etwas falsch. Zumindest, wenn westliche Werte die Messlatte sind.
Sollte Carrie Lams Ankündigung nicht nur taktisch motiviert, sondern ernst gemeint sein, bietet sich für Hongkong eine zweite Chance. Lam muss deeskalieren und Brücken zu den Protestlern bauen. Dialogforen und Gespräche sind der Weg. Eine Untersuchung der Ausschreitungen, die auf beiden Seiten zu Exzessen geführt haben, mag ein erster Schritt hierzu sein. Die Demonstranten wiederum müssten auf Maximalforderungen wie die Unabhängigkeit von Hongkong verzichten.
In der Vergangenheit hatte die Regierungschefin diesen politischen Sensor vermissen lassen. Zu lange hatte Lam an dem von ihr angestoßenen Auslieferungsgesetz festgehalten, wonach mutmaßliche Straftäter den chinesischen Behörden überstellt werden können. Zu spät hat sie den Gesetzentwurf aus dem Verkehr gezogen.
Die große Frage ist nun, ob Peking bei einer Strategie der Annäherung mitziehen würde. Es ist der Lackmustest für die Flexibilität von Chinas Führung. Stellt sich Staatschef Xi Jinping stur und beharrt darauf, dass Hongkong ab 2047 dem Riesenreich eins zu eins angegliedert wird, werden die Proteste sehr wahrscheinlich weitergehen. Formaljuristisch hätte er recht, denn 1997 wurde zwischen der ehemaligen Kolonialmacht Großbritannien und China der Grundsatz "ein Land, zwei Systeme" vereinbart. Demnach kommt Hongkong nur für eine 50-jährige Übergangszeit in den Genuss relativer Freiheit.
Doch die pulsierende Metropole verdankt ihre Energie auch der Liberalität in Politik und Wirtschaft. Sie ist Teil der kulturellen DNA der Bevölkerung. Es wäre daher klug, wenn Peking Hongkong als Oase der Freiheit über 2047 hinaus erhalten würde.
Profitieren würden am Ende alle. Internationale Unternehmen, die den chinesischen Markt von Hongkong aus bedienen, sähen keine Veranlassung, zum Beispiel nach Singapur abzuwandern. Viele westliche Firmen klagen, dass die Bürokratie in Festland-China nach wie vor eine große Investitionshürde sei. Zudem betont Peking fortwährend, dass es an einer Win-Win-Situation für die Weltwirtschaft interessiert ist. Alle Beteiligten sollen zum Zuge kommen, heißt es. Im Umgang mit Hongkong kann Xi Jinping beweisen, wie ernst diese Beteuerungen gemeint sind.