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Türkei lebt ein verspätetes Europa

Als Erdogan 1994 Bürgermeister von Istanbul wurde, sagte er: "Wer Istanbul regiert, regiert die Türkei." Wird die Bürgermeisterwahl künftig als Anfang vom Ende seiner Herrschaft eingestuft werden?

Geschrieben von Joachim Zießler am . Veröffentlicht in Welt.
Foto: Umut YILMAN

Als Erdogan 1994 Bürgermeister von Istanbul wurde, sagte er: "Wer Istanbul regiert, regiert die Türkei." Wird die Bürgermeisterwahl künftig als Anfang vom Ende seiner Herrschaft eingestuft werden?

Dr. Günter Seufert: Tatsächlich hatte Recep Tayyip Erdogan nach seinem Wahlsieg von 1994 recht mit seiner Vorhersage. Die Bürgermeisterwahl in Istanbul entpuppte sich als Wasserscheidenwahl. Aktuell ist es ganz ähnlich - sogar noch verschärft. Denn 1994 war der Bürgermeisterposten von Istanbul noch nicht so bedeutend wie heute. Damals gab es noch einen Ministerpräsidenten. Es gab ein funktionierendes Parlament, in dem sich Politiker profilieren konnten. Wir hatten Minister, die aus dem Parlament heraus in ihre Aufgaben berufen wurden. Das gibt es alles nicht mehr. Wir haben einen Staatspräsidenten, der seine Minister und seinen Stellvertreter ernennt. Deshalb sind die Bürgermeisterposten in den großen Städten dazu geeignet, dass sich neue Führungspersönlichkeiten herauskristallisieren können. Von daher trifft Erdogans Spruch heute noch stärker zu als damals.

Zeugt der Sieg von Ekrem Imamoglu davon, wie stark die Zivilgesellschaft in der Türkei doch ist oder nur wie gespalten und dass Erdogan seinen größten Rückhalt ohnehin auf dem Land hat?
Seufert: Es zeigt, dass die Spaltung in einen eher säkularen und einen konservativ-muslimischen Teil möglicherweise an Bedeutung verliert. Denn in dem Oppositionsbündnis ist die säkulare CHP vertreten, die rechtsnationalistische IYI-Partei, die pro-islamische Saadet-Partei und die konservative Demokratische Partei. Zudem hat die pro-kurdische Partei HDP Imamoglu unterstützt. Zum ersten Mal seit 15 Jahren wählen Bürger nicht primär aufgrund ihrer kulturellen oder religiösen Zugehörigkeit, sondern aufgrund sachlicher Erwägungen. Dieses ideologisch heterogene Bündnis hat nur im Widerstand gegen die Ein-Mann-Herrschaft Erdogans und gegen die Abschaffung des parlamentarischen Systems zusammengefunden. Hinzu kommen die Ablehnung von Erdogans riskanter Außenpolitik sowie seiner erfolglosen Wirtschaftspolitik und die Sorge angesichts der nicht mehr unabhängigen Justiz. Diese Sachfragen bringen die Opposition über konfessionelle und ethnische Grenzen hinweg zueinander.

Hat Erdogan mit dem brachialen Instrument der Wahlannullierung einen schweren Fehler begangen, weil er die Opposition geeint hat?
Seufert: Die Opposition war schon vorher geeint, weil sie auch in der ersten Wahl als Bündnis antrat. Einen schweren Fehler hat er begangen, weil er mit der Annullierung diese Wahl im Grunde zu einer Abstimmung zwischen ihm selbst und einem Bürgermeisterkandidaten umfunktioniert hat. Der Sieg des Bürgermeisters gegen den Staatspräsidenten ist ernüchternd für die AKP.

Welchen "dritten Weg" hatte PKK-Chef Öcalan in seinem Brief vor der Wahl angemahnt? Einen anderen Kandidaten oder nach der Wahl ein Zuschütten des Grabens in der Gesellschaft?
Seufert: Öcalan ist seit über zehn Jahren in Isolationshaft, seit vier Jahren sogar ohne Möglichkeit, mit seinen Anwälten zu sprechen. Diese Isolation wurde jetzt offensichtlich mit dem Ziel aufgehoben, Öcalan dazu zu bewegen, die Kurden zu einem Wahlboykott aufzurufen. Dieser Versuch, Öcalan zu instrumentalisieren, scheiterte. Noch vor wenigen Wochen rückte die Regierung alle in die Nähe des Terrorismus, die die pro-kurdische HDP unterstützten. Der plötzliche Schwenk hin zur Ankündigung einer neuen Aussöhnungsinitiative hat die Kurden nicht überzeugt und nationalistische Wähler verschreckt.

Mit der Wahlannullierung vollzog Erdogan im Innern nach, was er in der Außenpolitik zuletzt in Serie produziert: Fehler. Das Verhältnis zu den USA und Israel liegt in Trümmern. Die Unterstützung von Dschihadisten in Syrien steigert die Terrorgefahr im Innern. Die Boomjahre endeten in einer Rezession. Rächt sich, dass korrigierende Kritik Alleinherrscher immer seltener erreicht, je länger sie regieren?
Seufert: Das ist auf jeden Fall richtig. In der Türkei ist zu hören, dass Erdogan praktisch abgeschirmt wird von seinen Beratern. In seinem Umfeld traut sich keiner mehr, ihn mit unangenehmen Wahrheiten zu konfrontieren. Selbst die Minister haben es schwer, zu ihm durchzudringen. Erdogan lebt in einem Kokon und erfährt kaum noch sachdienliche Beratung.

Die AKP ist kein monolithischer Block. Kommt es über der Wahlniederlage zur Spaltung?
Seufert: Das ist offen. Sicher ist hingegen die Gründung zweier neuer Parteien durch ehemalige AKP-Mitglieder. Die große Niederlage der AKP in Istanbul werden diese Parteineugründungen erleichtern.

Könnte Erdogan versuchen, dem innenpolitischen Druck ein Ventil zu geben, indem er den Türken einen Sündenbock anbietet - die Kurden etwa?
Seufert: Das kann man nicht ausschließen. Allerdings müsste die AKP gemerkt haben, dass eine derart polarisierende Strategie nicht zum Erfolg führt. Beim ersten Wahlgang hatte Erdogan bereits Ankara und Antalya verloren sowie Izmir nicht gewonnen. Er hat die moderne Türkei verloren. Nach dem ersten Wahlgang hat die Regierung deshalb versucht, die Strategie der Opposition zu kopieren und schlug einen moderaten Ton an. Als dies in den Umfragen nicht verfing, schwenkte sie wieder auf einen polarisierenden Kurs ein.

Imamoglu gibt sich nicht säkular, wie andere CHP-Politiker, sondern bekennt sich zu seinem Glauben. Könnte er der Mann sein, der den Kulturkampf in der Türkei überwindet?
Seufert: Die Tatsache, dass er einen solchen Zuspruch bekam, für den Kurs, den er bisher verfolgt hat, zeigt, dass das Potenzial für einen Versöhnungskurs durchaus vorhanden ist. Die Türkei wartet auf eine solche Politik. Die CHP war oft nicht nur säkular, sondern vielmehr säkularistisch, das heißt, sie wollte die türkischen Bürger zu einem säkularen Lebensstil zwingen. Mit Imamoglu hat sie erstmals die Chance, auch konservative Wähler zu überzeugen. Und angesichts der Tatsache, dass konservative Bürger in der Türkei mit 55 bis 60 Prozent die Mehrheit stellen, ist dies die einzig erfolgversprechende Strategie. Die Kluft zwischen Frommen und Weltlichen kann nur durch Personen überwunden werden, die zwar für die Trennung von Staat und Religion eintreten, aber selbst mit dem Glauben keine Schwierigkeiten haben.

Während die Opposition feiert, läuft in Istanbul der Gezi-Prozess, in dem damaligen Protestierern der Prozess wegen eines vermeintlichen Umsturzversuches gemacht wird. Wie sehr ist die Türkei Teil des Nahen Ostens und wie weit entfernt von Europa?
Seufert: Wenn man berücksichtigt, dass das Europa zwischen den Weltkriegen sehr nationalistisch und militaristisch war, und zugleich die Renaissance des Nationalen in der Gegenwart konstatiert, sieht man wie gegensätzlich Europa sein kann. Heute lebt die Türkei ein verspätetes Europa. Mit Politikern wie Imamoglu ist das Land dabei, sich dem Nachkriegseuropa anzunähern.

Die Türkei ist der erste Versuch, Demokratie und Islam zu versöhnen. Zeigt die Wahl vom Sonntag, dass die Demokratie auch unter schwierigen Bedingungen nicht so leicht zu beerdigen ist?
Seufert: Das würde ich schon sagen. Die Wahl ist ein großer Hoffnungsschimmer - sowohl für die Türken selbst als auch für die internationale Gemeinschaft. Die Bürger haben nach wie vor auf demokratische Prozesse vertraut, obwohl die erste Wahl annulliert worden war. Sie blieben ruhig und gingen erneut zur Wahl, statt gewaltsam zu protestieren. Die Wahlbeteiligung von um die 85 Prozent war viel höher als bei uns. Und die Wähler zeigten einen demokratischen Reflex, indem sie einem autokratischen Herrscher einen Denkzettel verpasst haben.


Dr. phil. Günter Seufert, 64, ist Journalist und Soziologe. Er forscht für die Stiftung Wissenschaft und Politik, den größten Thinktank Europas, der Bundestag und -regierung berät. Seufert lebte über ein Jahrzehnt in Istanbul, verfasste mehrere Bücher und zahlreiche Aufsätze zur politischen Lage in der Türkei.


Quelle: ots/Landeszeitung Lüneburg