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Türkei nun Teil des Nahen Ostens

Der Westen erhob die Türkei lange zur Brücke zwischen Orient und Okzident und zwischen Demokratie und Islam. Hat Erdogans Referendum diese Brücke endgültig eingerissen?

Geschrieben von Redaktion am . Veröffentlicht in Welt.
Foto: Ray Che / Flickr CC BY 2.0

Der Westen erhob die Türkei lange zur Brücke zwischen Orient und Okzident und zwischen Demokratie und Islam. Hat Erdogans Referendum diese Brücke endgültig eingerissen?

Dr. Günter Seufert: Das würde ich so nicht sagen. Schließlich ist die Türkei NATO-Mitglied, kämpft zusammen mit den USA, Großbritannien, Frankreich und der Bundesrepublik in Syrien - wenn auch mit vielen Schwierigkeiten. Immer noch ist die Türkei das Land im Nahen Osten, mit dem wir wirtschaftlich am stärksten verbunden sind. Und schließlich hat die Türkei immer noch - wie wir beim Referendum gesehen haben - eine Bevölkerung, von der immerhin 35 bis 38 Prozent nach Europa orientiert sind. Von daher würde ich sagen, dass die Brückenfunktion noch besteht, aber schwer angeschlagen ist.

Trotz massiver Benachteiligung der Opposition und möglicher Manipulationen errang Erdogan nur eine knappe Mehrheit. Unterschätzte er die Spaltung der Türkei in einen weltlichen und religiösen, einen städtischen und ländlichen sowie einen modernen und traditionellen Teil?

Unterschätzt hat er sie nicht, sondern sogar ganz bewusst vertieft. Er hat politischen Gegnern prophezeit, dass ihr Seelenheil in Gefahr sei, oder sie sogar mit Terroristen gleichgesetzt, und hat immer wieder betont, dass die Nation nur aus gläubigen Muslimen besteht. Er hat die Polarisierung betrieben, weil er erwartete, dass sie ihm nutzt. In der Vergangenheit bekamen die Konservativen rund zwei Drittel der Stimmen. Dass Erdogans Rechnung diesmal nicht ganz aufging, zeigt, dass viele Konservative dieser Rhetorik überdrüssig geworden sind.

Wie wird Erdogan mit seinen Gegnern umgehen und welchen Staat strebt er zum 100. Jahrestag der Türkischen Republik 2023 an?

Das sehr knappe Referendumsergebnis verschaffte Erdogan zwar eine legale Legitimation für den Verfassungsumbau, aber keine politische Legitimation dafür, knapp die Hälfte der Bevölkerung aus dem politischen Willensbildungsprozess auszuschließen. Primär wollte Erdogan mit dem Präsidialsystem seine politische Zukunft sichern. Das ist ihm gelungen. Nun ist die spannende Frage, ob er die Polarisierung aus lediglich ideologischen Gründen weitertreibt und die Türkei mehr und mehr in einen islamischen Staat umwandelt oder ob ihm seine nun erworbene Unangreifbarkeit reicht und er zu einer Politik zurückkehrt, die dem Land nutzt.

Die AKP verteidigte die Verfassungsänderung mit dem Argument, man strebe eine Präsidialdemokratie nach französischem oder US-Muster an. Welche Faktoren sprechen eher für einen Rückzug aus der demokratischen Welt?

Eine ganze Reihe. Denn die genannten Präsidialsysteme weisen eine klare Gewaltenteilung auf. Das ist in der Türkei nicht der Fall, zumal Erdogan voraussichtlich bald wieder in seine Partei eintreten und deren Führung übernehmen wird. Da die AKP im Parlament die absolute Mehrheit hat, bestimmt er dann zugleich die Legislative und die Exekutive. Zugleich hat er über die Möglichkeit, die Ernennung der Mitglieder des Hohen Richterrates maßgeblich zu bestimmen, sehr viel Einfluss auf die Judikative. Denn der Richterrat setzt die Richter an den Gerichten ein.

Ist die Türkei dann mit dieser Art Wahl-Diktatur Teil des Nahen Ostens geworden?

Es ist damit zu einem negativen Abschluss gekommen, was positiv begann. Im gesamten Nahen Osten wurden autokratische, säkularistische Regime gestürzt - in Ägypten und Syrien jeweils die Baath-Partei, im Iran der Schah - und zwar von stark religiös gefärbten Volksbewegungen. In der Türkei haben wir denselben Prozess erlebt, allerdings auf demokratische Weise. Zugleich eigneten sich die muslimischen Akteure in der Türkei einen proeuropäischen Diskurs an und führten demokratische Reformen durch. Von daher wurde die Türkei in einem positiven Sinne Teil des Nahen Ostens. Jetzt steht mit der Verfassungsänderung zu befürchten, dass sie in einem negativen Sinne Teil des Nahen Ostens wird. Weil die Erlangung der Macht durch muslimische Volksmassen leider nicht zu mehr Demokratie, sondern zu mehr Autokratie geführt hat.

Sind Putschversuch und nachfolgende Säuberungen wie Referendum vergleichbar - nicht gleichzusetzen - mit Reichstagsbrand und Ermächtigungsgesetz?

Alle Vergleiche hinken. So war der Reichstagsbrand keine tatsächliche Herausforderung der Machthaber, während der Putschversuch eine handfeste Bedrohung für die legitim gewählte Regierung war. Vergleichbar ist allerdings, dass auch in der Türkei die Chance genutzt wurde, gründlich mit der kurdischen Opposition aufzuräumen, bürgerliche Freiheiten einzuschränken und die Universitäten nahezu gleichzuschalten, indem kritische Wissenschaftler entlassen wurden.

Anfang des Jahrtausends hatte Europa noch begrüßt, dass Erdogan die Generäle zurück in die Kasernen drängte. Wurde dabei übersehen, dass ein fragiles Machtgleichgewicht zerbrach?

Man hat es wohl nicht übersehen, musste es aber in Kauf nehmen. Man kann keine Demokratie errichten und dabei die Mehrheit der Bevölkerung ausschließen. Vorher gab es eine klare Elitenherrschaft mit einer starken Benachteiligung großer Bevölkerungsschichten. Die EU hatte damals ihre Forderungen nach einer demokratischen Kontrolle der Streitkräfte aus dem guten Grund erhoben, dass die Politik den Sicherheitsapparat kontrolliert und nicht umgekehrt.

Wie groß ist der Anteil der Verantwortung Europas an der negativen Wendung, weil es den Beitrittsprozess nie ernsthaft betrieb und so nie nachdrücklich Reformen einfordern konnte?

Sicher gibt es keine moralische Verantwortung Europas. Die türkische Bevölkerung bestimmt letztendlich selbst, in welchem System sie leben und wohin sie sich orientieren möchte. Wir haben allerdings Verantwortung daran, unseren eigenen Interessen nicht gedient zu haben. Denn es hätte uns genützt, wenn diese demokratische Transformation gelungen wäre. Die Türkei wäre uns als verlässlicher Partner im Nahen Osten erhalten geblieben. Jetzt steht uns ein Land gegenüber, von dem wir nicht wissen, ob es nicht doch in nächster Zeit mit Russland gegen die EU kooperiert oder nicht doch gegenüber der EU die Flüchtlingskarte zieht oder nicht doch aus dem Kampf gegen den IS ausschert.

Ist es ein Zeichen gescheiterter Integration in die Demokratie, dass die hier lebenden Türken für einen antidemokratischen Kurs in der Türkei gestimmt haben?

Das Abstimmungsverhalten der Deutschtürken mag auf den Beobachter tatsächlich bizarr wirken, doch für Panik besteht kein Anlass. Die Menschen, die hier für die Verfassungsänderung gestimmt haben, wollten keine Autokratie, sondern saßen der Propaganda auf, dass ein präsidiales System Voraussetzung für den Wiederaufstieg der Türkei wäre. Die antidemokratischen Folgen haben sie einfach in Kauf genommen oder waren über sie gar nicht im Bilde. Ich denke, viele Abstimmenden hatten keine klaren Vorstellungen darüber, wozu sie Ja sagten. Umfragen in der Türkei zeigten, dass zwei Dritteln der Pro-Wähler Grundkenntnisse über den Gegenstand des Referendums fehlten. Das Abstimmungsverhalten der Türken in Europa ist aber kein spezifisch deutsches Problem. Das gleiche Wahlverhalten gab es auch in Frankreich, den Niederlanden, Belgien und Österreich. Wir müssen uns also nicht zu stark an die eigene Brust schlagen, dass unsere Integrationspolitik versagt hat. Diaspora-Bevölkerungen sind immer konservativer und nationalistischer als jene im Heimatland.

Erdogan lässt keine Absicht auf Versöhnung erkennen, weder in der Türkei noch mit dem Ausland. Wie muss sich Europa positionieren?

Europa hat im Augenblick gegenüber der Türkei als Druckmittel nur noch die Wirtschaftsbeziehungen. Weil die Türkei was Export, Investitionen und technische Neuerungen betrifft, nach wie vor abhängig ist von Europa. Ankara hat deshalb ein großes Interesse an der Nachverhandlung der Zollunion. Zweifel sind aber angebracht, dass die EU, die sich seit zehn Jahren auf keine gemeinsame Türkeipolitik verständigen konnte, das ausgerechnet jetzt zustande bringt. Im eigenen Interesse läge es aber schon, der Türkei wirtschaftlich entgegenzukommen, aber dabei klare rote Linien zu ziehen. Zum Beispiel: keine Wiedereinführung der Todesstrafe; kein Aufkündigen der Kooperation bei der Bekämpfung von Terror und der Grenzsicherung sowie ein klares Bekenntnis zur NATO. Wenn Europa es nicht schafft, seine wirtschaftliche Macht in klare Forderungen an die Türkei umzumünzen, verliert es auch den letzten Einfluss.

Das Interview führte Joachim Zießler



Quelle: ots/Landeszeitung Lüneburg