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Ukraine: Eine Wut-Wahl - Wie soll es weitergehen?

Die ukrainische Politik steht seit langem in dem Ruf, reich an Absurditäten zu sein. Man denke nur an all die Prügeleien und Blockaden im Kiewer Parlament oder an den angeblich von russischen Agenten getöteten Journalisten Arkadi Babtschenko, der am Tag nach dem "Mord" lachend bei einer Pressekonferenz auftauchte. Nun aber bekommt das krisengeschüttelte Land einen politisch vollkommen unerfahrenen Komiker als Präsidenten, und das ist leider überhaupt nicht mehr lustig. Im Gegenteil: Wolodymyr Selenskyjs Wahlsieg ist ein Risikofaktor ersten Ranges, und zwar nicht nur für die Politik in Kiew, sondern für Frieden und Stabilität im Osten Europas.

Geschrieben von Redaktion am . Veröffentlicht in Welt.
Unabhängigkeit-Monument, Maidan Platz, Kiew, Ukraine
Unabhängigkeit-Monument, Maidan Platz, Kiew, Ukraine
Foto: Juan Antonio Segal / CC BY 2.0 (via Flickr)

Die ukrainische Politik steht seit langem in dem Ruf, reich an Absurditäten zu sein. Man denke nur an all die Prügeleien und Blockaden im Kiewer Parlament oder an den angeblich von russischen Agenten getöteten Journalisten Arkadi Babtschenko, der am Tag nach dem "Mord" lachend bei einer Pressekonferenz auftauchte. Nun aber bekommt das krisengeschüttelte Land einen politisch vollkommen unerfahrenen Komiker als Präsidenten, und das ist leider überhaupt nicht mehr lustig. Im Gegenteil: Wolodymyr Selenskyjs Wahlsieg ist ein Risikofaktor ersten Ranges, und zwar nicht nur für die Politik in Kiew, sondern für Frieden und Stabilität im Osten Europas.

Es braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, dass Wladimir Putin und die Strategen im Kreml bereits diverse Planspiele durchgegangen sind, wie sie die Wahl eines blutigen Amateurs für ihre Zwecke nutzen können. Die Palette der Möglichkeiten dürfte dabei von einem bloßen Warten auf Fehler über gezielte Störmanöver bis hin zu einer Intensivierung der militärischen Konfrontation im Osten der Ukraine reichen.

Vor diesem Hintergrund kann man nur hoffen, dass Selenskyj klug genug ist, sich schnellstmöglich mit einem Team aus erfahrenen Beratern zu umgeben, auch wenn er als Held einer Anti-Establishment-Kampagne gewählt worden ist. Denn genau darum ging es bei der Abstimmung: Die Ukrainerinnen und Ukrainer haben am Sonntag ihren Protest zu Protokoll gegeben. Sie votierten nur formal für den 41 Jahre jungen Selenskyj. In Wirklichkeit stimmten sie voller Zorn gegen die seit drei Jahrzehnten andauernde Herrschaft einer korrupten Oligarchen-Clique, deren postsowjetische Netzwerke das Land und seine Institutionen durchziehen wie ein Krebsgeschwür. So gesehen kommt das Ergebnis dieser Wut-Wahl einem dritten Umsturzversuch nach der Revolution in Orange von 2004 und der Maidan-Erhebung von 2014 gleich.

In diesem Sinn kann man sich als Demokrat über die freiheitliche Gesinnung der Menschen in der Ukraine sogar freuen. Aber auch nur in diesem Sinn, denn von demokratischer Reife zeugt es nicht, einen Mann zu wählen, der sich jeder ernsthaften Auseinandersetzung entzieht. Selenskyj hat es mit seinem inhaltsleeren Wahlkampf geschafft, sich als Projektionsfläche für alle möglichen Sehnsüchte anzubieten, die es in einem krisengeschüttelten Land naturgemäß zuhauf gibt. Die nationalukrainischen Patrioten im Westen des Landes wählten ihn ebenso wie die Slawophilen im russischsprachigen Osten. Völlig offen aber ist die Frage: Was kommt jetzt? Deutlicher formuliert: Was will dieser Clown eigentlich? Das naheliegende Szenario ist, dass Selenskyj mit dem Oligarchen Ihor Kolomojskyj einen neuen ökonomisch-politisch-medialen Komplex bildet. Es wäre die Fortsetzung der ukrainischen Oligarchie mit anderen Mitteln und einem unverbrauchten Gesicht an der Spitze.

Zugleich wäre es das bitterste Szenario für die Menschen in der Ukraine, die noch immer auf einen echten Neuanfang hoffen. Das aber heißt auch: Wenn die EU dieses Land mit seinen Demokraten nicht verlieren will, sollte sie ihre Aktivitäten in der Region schnellstmöglich intensivieren und der Ukraine eine echte Beitrittsperspektive eröffnen. Selenskyj hat sich zu einem proeuropäischen Kurs bekannt. Die Verantwortlichen in Brüssel, Berlin und Paris sollten ihn beim Wort nehmen. Und sie sollten endlich daraus lernen, was sie in der Zusammenarbeit mit Petro Poroschenko falsch gemacht haben.

Gute Worte, etwas mehr Geld und Visaerleichterungen reichen nicht aus, wenn man zugleich dem geostrategisch viel bedeutsameren Bau einer Ostseepipeline mit Russland zustimmt, wie die Bundesregierung dies getan hat. Dieses unsägliche Lavieren muss ein Ende haben.



Quelle: ots/Mittelbayerische Zeitung